Text vom 22.11.2019, erschienen bei LinkedIn
Bild-Quelle: https://www.cio.de/a/siemens-cio-wer-umbaut-sollte-mit-offenen-karten-spielen,3609512
Manchmal werde ich nachts wach und kann nicht wieder einschlafen. Es ist stets ein Zeichen, dass irgendetwas mein Unterbewusstsein beschäftigt, das raus will. Heute war so eine Nacht. Ich folge dann meiner Intuition und lasse mein Unterbewusstsein das ausspucken, was es beschäftigt. Kriege ich es zu fassen, schreibe ich es auf oder treffe eine Entscheidung. Es befriedet mein Unterbewusstsein und es lässt mich weiterschlafen-meistens.
Ich habe in der letzten Woche nach 23 Jahren Siemens Konzern meinen Aufhebungsvertrag unterschrieben, seitdem geht mir vieles durch den Kopf, manchmal auch nachts.
Als ich so schlaflos in meinem Bett lag, tat ich etwas sehr Ungewöhnliches, ich griff zum Handy. Seit ich meine Abschiedsmail geschrieben und den Status hier in LinkedIn geändert hatte, herrschte reger Betrieb.
Menschen gratulierten mir zur neuen Position, zur neuen Freiheit, zu meinem Entschluss, meinem Herzen zu folgen und Siemens zu verlassen. Sie sagten, sie würden mitkommen. Oder fragten, wie ich das gemacht hätte.
Manchmal ist das Leben voller Zufälle. Wobei ich schon lange nicht mehr an Zufälle glaube.
Ich setze also mein Handy online, öffne LinkedIn und das erste, was mir entgegen springt, ist dieser Artikel, kommentiert von demjenigen, um den es geht in diesem Artikel: Helmuth Ludwig. CIO der Siemens AG ist CIO des Jahres 2019. Mein oberster Manager der vergangenen Jahre.
Es trifft mich wie ein Schlag. KRAWUMM! Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Irgendetwas in mir entscheidet sich für debiles Lachen. Wie eine Geistesgestörte liege ich also nachts um vier in meinem Bett und kichere vor mich hin. Ich bin fassungslos.
Um das hier gleich vorneweg zu schicken: ich schätze Sie als Menschen sehr, Helmuth Ludwig.
Lediglich Ihre Rolle in diesem Spiel, für das Sie den Preis CIO des Jahres erhalten haben, möchte ich diskutieren. Sie stehen für mich schicksalshaft als IT-Prototyp im gedeckten Jackett in langer Reihe mit vielen anderen Herren Top Managern im dunklen Jackett.
Und dieses geht nicht nur Siemens an, dieses ist ein Text an jeden einzelnen Menschen in Führungsverantwortung. Es ist ein Text über Ethik und den Ruf nach Menschlichkeit.
Ich habe auch ein wenig Angst, was passieren wird, wenn ich meine Gedanken hier veröffentliche.
Aber, wenn ich nicht aufstehe und etwas sage, wird es sonst jemand tun? Wird sich jemals etwas verändern? Ich höre ein lautes „NEIN“ in mir.
Das Thema ist brandaktuell und anscheinend hat es sich mich als Multiplikator gesucht.
Und ich lebe ja in einem Land, wo die Meinungsfreiheit gilt.
Also los.
Die Unmenschlichkeit der heutigen Arbeitswelt, in der es nur und immer ums Geld geht, gehört auf den Tisch und diskutiert.
Hier wird jemand als CIO des Jahres gekürt, der aus konservativen, strukturellen, knallharten shareholder Value und betriebswirtschaftlichen Aspekten aus dem letzten Jahrtausend wohl alles richtig gemacht hat. Der Siemens CIO hat die Siemens IT ausgerichtet, sie fit für die Zukunft gemacht. Damit wir in der VUCA Welt überleben. So wie es ihm von seinen Managern aufgetragen wurde. Chapeau!
Mit Menschlichkeit und Menschen hat das für mich alles nichts zu tun.
Von der neuen Welt, die überall als Working Out Loud, Augenhöhe, Grains, Digital Mindset und Digital Leadership, auch bei Siemens, als Graswurzelinitiativen aus dem Boden sprießen, haben viele TOP Manager bei Siemens nichts verstanden.
Und auch die gesamte Jury, die die CIOs des Jahres wählt, hat nichts verstanden.
Die gerühmte IT Umstrukturierung, für die es den Preis CIO des Jahres 2019 gab, hat mit Menschlichkeit nichts zu tun.
300 Menschen wurden verkauft, outgesourct. Hunderte weitere hatten auf einmal keinen Job mehr in Deutschland, weil Indien, Thailand und Portugal niedrigere Lohnkosten haben und Jobs verlagert wurden.
Es wurden Menschenleben zerstört, Familien ins Unglück gestürzt. Ich finde keine anderen Worte dafür. Wenn Dir nach vielen Jahren Siemens gesagt wird, dass Du nicht mehr gewünscht bist und zu alt und zu teuer, zu unflexibel. Dafür hast Du Dich aber jahrelang eingesetzt für die Firma, Dein Bestes gegeben, nach bestem Wissen und Gewissen. Alle Ziele erfüllt, bist allen Visionen gefolgt, neuen Trends. Egal wie schnell diese sich änderten. Jedes Mal, wenn ein neuer Besen kam und wieder neu gekehrt wurde, bist Du gefolgt. Für die Firma. Für Siemens. Die sieben großen türkisfarbenen Buchstaben sind Dein Leben und bezahlen Dein Leben.
Der Mensch, der dieses mit anderen Menschen gemacht hat, kriegt nun einen Preis. Er ist der CIO des Jahres 2019.
Für mich ist es ein Schlag ins Gesicht für alle Siemens ITler, die 15 Monate durch diese Transformation geschickt wurden. Betriebswirtschaftlich sicherlich alles richtig, menschlich unter aller Sau, Siemens!
Ich weiß, wovon ich rede, denn ich war in besagtem Change-Management Team dieser Siemens IT Transformation und habe streckenweise die Kommunikation mit den Siemens IT Managern geleitet. Wir waren auf uns gestellt, Rückendeckung vom TOP Management gab es nicht. Budget auch nicht. Die meisten haben Veränderung in Teilzeit begleitet, neben ihrem täglichen Job.
Viele Menschen waren verzweifelt und hatten Angst. Dem Aufruf unseres CIOs, über alles zu reden, was uns belastet (den gab es!), trauten sich sehr wenige bis keine Mitarbeiter zu folgen. Meinem Aufruf zum Verbalisieren der Gefühle und Ängste konnten einige folgen. Schließlich erreichte mich ein anonymer Brief, per Hauspost und auf echtem Papier gedruckt. Ein Siemens IT Manager hatte sich getraut über seine Gefühlslage zu schreiben. Dass das anonym geschah, spricht für sich. Ich habe diesen Brief im internen sozialen Netzwerk veröffentlicht.
Was ich sagen möchte: guckt hin Ihr Manager, Ihr verliert Euch selber und Euer wichtigstes: die Menschen und die Menschlichkeit.
Als ich in der letzten Woche zum letzten Mal durch die wundervolle Mosaikhalle im Berliner Verwaltungsgebäude strich, den altehrwürdigen Hallen, wo Siemens gegründet wurde, konnte ich spüren, wie Werner von Siemens sich im Grabe umdreht. Der Geist des großartigen Pioniers seiner Zeit, der Siemens gründete, um den Menschen zu helfen, steckt immer noch in diesen Mauern und ist allgegenwärtig. Er strahlt etwas anderes aus, als das wozu Siemens geworden ist.
Quo vadis Siemens? Du hast Deine Werte vergessen.
Gibt es heute vielleicht tatsächlich nur eine Wahl? Welchen Tod will ein so großer Konzern wie Siemens sterben?
Entweder das aktuelle Management verkauft über hundert Jahre alte Werte seines Gründers, in dem es sich zum Kapital ausrichtet, oder es richtet sich nicht zum Kapital aus, wird feindlich übernommen, von Investoren verschlungen und dann zerlegt, siehe Osram.
Es geht immer nur ums Geld.
Quo Vadis schöne neue VUCA Welt?
Oder geht das auch alles ganz anders?
Was brauchen wir dafür?
Wann werden wir tatsächlich begreifen, dass wir alle Menschen mit Herz, Kopf und Gefühlen sind und dass wir Geld nicht essen können?
Warum ich Siemens nach 23 Jahren auf eigenen Wunsch verlassen habe?
Weil ich ein Mensch bin.