Die Vergebungslüge

 

Die Vergebungslüge



Wenn „Vergebung“ wie Selbstverrat ist

Die Vergebungslüge: Wenn ich heute höre, ich solle vergeben, um zu heilen und innerlich frei zu sein, möchte ich kotzen. Direkt. Und auf die Füße der Person, die mir diese gequirlte Scheiße an den Kopf geworfen hat.

Und das passiert immer wieder. Letztens in Form von einer älteren Frau, die mir selbstgerecht und ungefragt erzählte, dass sie ihrer gesamten Ahnenreihe vergeben habe und es ihr jetzt seeeehr gut geht. Das „Sehr“ zog sie dabei in die Länge und die Stimme wurde zum Ende hin schrill und kiekste dann ein bisschen.

Ganz genau Schnecke, dachte ich mir dann auch, warum genau bist Du jetzt in diesem Rage Club, diesem fucking Wutkraft Workshop an diesem Wochenende? Weil Du so peacig mit Deinen Ahninnen bist?

So peacig, dass du quiekst wie ein Schweinchen, wenn es in der Übung heißt, nimm mal Kontakt zu Deiner Wut auf, dreh am Handtuch, würge es so richtig, dass sich der Frotteestoff durch die Haut deiner Handflächen frisst, und fahre Deine Wut hoch.
Mach.
Was kommt? Quietsch. Ah. Hiiiilfe. Kieks.

Tja, denk ich mir. Du hast keinen Frieden mit Deinen Ahninnen, Du hast nur einfach keinen Kontakt zu deiner scheiß Wut. Kenne ich sehr gut. Deshalb erscheint das Leben so peacig. Und unter der Oberfläche brodelt es.

Und all der Dreck, den Du aufgrund Deiner Ahninnen oder von ihnen, unbewusst mit Dir durchs Leben trägst, sucht sich andere Austrittsstellen. Das macht der unbewusste Dreck nämlich immer. Sich Austrittsstellen suchen. Darauf ist Verlass. Wie aufs Amen in der Kirche.
Oder dass jeder Mensch Kacken muss.

Vergebung als Selbstvergewaltigung

Heute nenne ich Vergebung Selbstvergewaltigung. Oder Verrat an mir selbst und meinen Gefühlen.
Das war nicht immer so.

Ich habe es Jahre probiert. Irgendwie meinen Eltern den Scheiß zu vergeben, den sie verzapft haben. Dass mein Vater seine beschissene erwachsene männliche Lust auf mich als Kind projiziert hat und ich seitdem glaube, Männer lieben mich nur, wenn ich ihnen mit ihrer männlichen Lust helfe und sexuell zu Diensten bin.

Meine Mutter hat gewusst, was läuft. Ich habe sie sogar drauf angesprochen vor ein paar Jahren. Anstatt, mich in Schutz zu nehmen, war ihr der fucking Schein meiner Scheiß Familie wichtiger als die seelische Unversehrtheit ihrer eigenen Tochter.

Ich habe mir in der Vergangenheit wirklich immer wieder Mühe gegeben mit der Vergebung. Wenn doch so viele New Age Spiri-Heinis predigen, dass Vergebung Heilung ist, dann muss das doch stimmen.
Logisch, hat sich mein Kopf gedacht. Weil der sich stets im Außen orientiert. Auch wenn mein Herz der Wahrheit schon längst auf der Spur ist und anders fühlt.

Der Kampf zwischen Kopf und Herz

Mein Kopf dominierte die Situation. Immer. Noch. Leider. Damals.
Ich bin sogar völlig verzweifelt, weil ich Vergebung überhaupt nicht fühlen konnte. Obwohl ich mich voll konzentriert habe. Und stundenlang auf dem Yoga-Kissen gehockt habe, 100.000 Gedanken in meinem Schädel durchgewinkt habe.

Die sich immer wieder um die Missetaten des Duo-Infernale drehten. Meine Eltern.
Ich kam mir vor, wie Nordstream 1, als noch Gas durchfloss. Ohm.
Ich identifiziere mich nicht mit meinen Gedanken. Ich vergebe. Ohm.

Die Sprengung hat bei mir allerdings nix gebracht. Die Gedanken flossen weiter. Hin und wieder rülpst mein Gehirn eruptionsartig Minisprengungen. Die sind besonders heiß. Und schreien mich an:
„Du sollst Vater und Mutter ehren. Also vergib ihnen.“

Meine Gefühle vergeben nicht. Im Gegenteil. Die wurden immer wütender, je mehr ich versuchte zu vergeben. Und kotzten gegen den Wind und Strom der Vergebungsgedanken meines Kopfes. Mein Herz bekam keinen Kontakt zu Vergebung. Nicht einmal annähernd.

Und dann hat mein Kopf die Schuld natürlich bei mir gesucht. Ich Looser schaffe einfach nicht, was gepredigt wird und was alle anderen natürlich easy-peasy schaffen: zu vergeben. Meinen Eltern.
„Vergebung ist Deine Heilung und Befreiung“, predigen sie. Bla.

Heute scheiße ich drauf. Und das kam so.

Die Erkenntnis durch eine fremde Stimme

Irgendwann letztens, als ich mal wieder am Boden war und überlegt habe, wo ich am besten runterspringe, damit der Schmerz in meinem Kopf und Körper endlich aufhört, mich dann aber doch wieder entschieden habe, meinen Kindern meinen vorzeitigen Seitenwechsel nicht anzutun, da habe ich mir mein Hirn und den Schmerz darin versucht, mit Instagram zu vernebeln.

Da hat sich dann der liebe Gott eingeschaltet. Das macht er bei mir öfter, wenn ihm meine Gedanken zu bunt werden und die Gefahr besteht, dass ich diese Inkarnation frustriert abbreche, bevor ich der Welt erklärt habe, dass innere Wahrheit nur im Herzen gefühlt werden kann und nicht mit dem Kopf gewusst werden kann.

Der liebe Gott schickte die Erklärung für meinen Kopf per Instagram.
In Form einer schlauen Frau. Natürlich bei den englischsprachigen Clips. Alles Deutsche hat meist einen Stock im Arsch, ist langweilig oder ist so offensichtlich schlechte Verkaufsscheiße, dass es abturnt.

Vergebung ist keine Pflicht

Besagte englischsprachige Frau, Psychiaterin, sagte folgendes:
Es gibt Menschen, mit denen wird sie in ihrem Leben nie wieder ein Wort reden. Weil diese Menschen Grenzen überschritten haben, die ihr Vertrauen, ihre Sicherheit und ihre Würde nachhaltig beschädigt haben. Vergebung sollte niemals eine Pflicht sein.

Sie sagte, dass dieser Gedanke aus der Idee kommt, dass Vergebung der einzige Weg sei, um uns zu befreien. Das stimmt aber nicht, sagte sie dann. Freiheit kann auch anders erlangt werden.

Da hatte diese Frau meine volle Aufmerksamkeit. Und das, obwohl ich ja Instagram angemacht hatte, um meine volle Aufmerksamkeit zu vernebeln.
Weil volle Aufmerksamkeit heißt volles Fühlen. Und das ist eben manchmal, öfter, einfach nicht zu ertragen.

Heilen ohne Vergebung – und der Weg der Seele

Die schlaue Psychiaterin sagte weiter: Nicht zu vergeben bedeutet nicht, Hass zu wählen.
Es bedeutet, sich für sein Wohlbefinden zu entscheiden und sich zu weigern, die schädlichen Handlungen von jemand anderem zu entschuldigen.

Sie sagte auch, dass es wichtig ist, anzuerkennen – und dass es zur eigenen Wahrheit gehören kann – zu fühlen, dass manche Menschen einfach keine Vergebung verdient haben.
Eigene Wahrheit. Fühlen. Meine Stichworte. Die eigene Wahrheit muss gefühlt werden. Die weiß nicht der Kopf.

Sie sagte weiter: Es ist wichtig, zu verstehen, dass Vergeben nicht dasselbe ist wie Heilung.
Hier nun die Krux: Du kannst heilen, ohne zu vergeben. Heilung bedeutet, deine Kraft zurückzugewinnen, inneren Frieden zu finden und dafür zu sorgen, dass der Schaden, der dir angetan wurde, nicht deine Zukunft bestimmt.

Wenn Du entscheidest, dass Vergebung nicht notwendig ist, dann gilt das.
Du schuldest niemandem eine Entschuldigung dafür, dass du dir selbst sicher bist, was Du fühlst.
Du schuldest niemandem Absolution für den Schaden, den er oder sie angerichtet hat.

Und Du kannst entscheiden, wie du heilst, wer in deinem Leben sein soll und ob die Menschen, die dich verletzt haben, jemals wieder in dein Leben reingelassen werden.
Manchmal ist das Mächtigste, was du tun kannst, wegzugehen, dich weigern zu vergeben und ein Leben aufzubauen, das von ihrer Grausamkeit unberührt ist.

Sie sagte zum Abschluss: Die einzige Person, der ich vergebe, bin ich selbst. So dass ich weitergehen kann. Das ist wahre Stärke und das ist Freiheit.
Und ja – das ist für mich echte Seelsorge: der Mut, den eigenen Weg zu gehen, auch wenn andere ihn nicht verstehen.

Der Klick-Moment in meiner Seele

Als ich fertig war mit Zuhören, hat es in mir Klick gemacht. Ein Zittern ging durch mein System. Und ich war unglaublich erleichtert.
Jetzt hatte mein Kopf verstanden, was mein Herz schon lange fühlte.

Ich muss nicht vergeben, um zu heilen. Ich kann auch einfach ganz konsequent und krass den Kontakt abbrechen und mich um mein neues Leben kümmern.
Und es je nach Gefühl gestalten.

Für mich war es wieder einmal: Vertraue Deinen eigenen Gefühlen, Sabine. Und vertraue Dir selbst.
Ich schreibe das noch mal ganz laut auf. Damit ich es selbst glaube.

Vertraue deinen eigenen Gefühlen. Sie sind deine innere Wahrheit.

Und Du? Wem willst Du nicht vergeben – und was sagt deine Seele dazu?


  • Moin Sabine,

    Dieser Text ist echt der Hammer.
    Danke dass du den veröffentlicht hast.
    ich habe ihn gespeichert und werde da nochmal drauf zugreifen.

    Mir geht es sehr ähnlich.
    Meine Worte sind, dass ich mir MIR und MIR gegenüber barmherzig bin.
    Für mich ist es wichtig, dass es auf mich ankommt, auf meine Gefühle, meine Wut
    und meinen Umgang mit dem was micht prägt.

    Wenn du magst, meldest du dich. Mich interessiert bei welchem Wut-Workshop du gewesen bist
    (und wie es dir mit deiner Wut weiter geht)

    Weiteres vielleicht dann.

    Liebe Grüße.

    Malte aus Lübeck

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